Hunde beißen gerne ängstliche Menschen – und Männer. Vielleicht.

In Teil 1 dieses Textes habe ich mich grundsätzlich über die Wissenschaft als Muse journalistischer Märchen ausgelassen. Weil dieser Tage ein wissenschaftliches Paper von der Presse aufgegriffen wurde und diese von vermeintlich spektakulären neuen Erkenntnissen berichtet, was beißende Hunde angeht.

Nachdem man sich das Paper angeschaut hat, fragt man sich, woher die Presse ihre kernigen Aussagen nimmt… denn die ForscherInnen selbst haben sie definitiv so nicht getroffen.

Am Ende des Papers findet sich oft der Hinweis auf zusätzliches Material, das der Veröffentlichung beigefügt wurde (supplementary material). Das sind häufig nicht so hübsch formatierte Tabellen und sonstige Einblicke in den Datensatz und die zugrunde liegenden Methoden. Deswegen schaue ich dort gerne rein. Ich war überrascht, festzustellen, dass ich dort mitnichten Daten finde… sondern die Pressemitteilung zum Paper. Titel: „Anxious personality may be linked to heightened dog bite risk“ – ‚Eine ängstliche Persönlichkeit könnte mit einem erhöhten Risiko verbunden sein, von einem Hund gebissen zu werden.’

In der Zusammenfassung des Papers steht in den Schlussfolgerungen auch gleich folgender krasser Satz: „Die Persönlichkeit der Opfer erfordert weitere Untersuchung und sollte potentiell beachtet werden, wenn es um das Erstellen eines Planes zur Verhinderung von Hundebissen geht.“ (Ich übersetze frei.) Nicht krass. Sondern tatsächlich eine wichtige Erkenntnis.

Denn eigentlich geht es in diesem Paper darum, dass die ForscherInnen die bisherige Herangehensweise an solche Hundebiss-Themen anzweifeln. Sie sagen, dass allein das Auswerten von Krankenhaus-Patientendaten zu einer Verzerrung des Bildes führt – aus ganz unterschiedlichen Gründen. In dieser Studie haben sie in einem genau definierten Gebiet in England Haus-zu-Haus-Befragungen gemacht und Fragebögen verteilt. Insgesamt konnten sie so am Ende 694 Fragebögen auswerten und hatten etwa ein Drittel der Bewohner der definierten Region erfasst.

Das methodisch größte Problem an dem Fragebogen war, dass sie Menschen, die mehr als einmal gebissen wurden, gebeten haben, ein Hundebiss-Ereignis ihrer Wahl genauer zu beschreiben – das wird in den meisten Fällen dazu führen, dass die Menschen das Ereignis auswählen, das am dramatischsten war. Und das kann zu einer Verzerrung des Gesamtbildes führen. Aber ansonsten… war der gewählte Ansatz ein spannender und die Ergebnisse fügen wichtige Aspekte für die Einschätzung der tatsächlichen Gefahr, die von Hunden ausgeht, hinzu. Sie vervollständigen das Bild nicht – aber immerhin.

In der Einleitung findet sich denn auch ein – wie ich finde – sehr mutiger Satz:

However, these figures are based on out-of-date data, incorrectly cited or even no true source is known and medical literature has a tendency to exaggerate dog bite risk.

Frei übersetzt: ‚Diese Grafiken basieren allerdings auf veralteten Daten, wurden falsch zitiert oder es ist nicht mal die tatsächliche Quelle bekannt – und medizinische Literatur hat die Tendenz, das Risiko von Hundebissen aufzubauschen.’ So einen Satz muss man so auch erstmal an den Gutachtern vorbeischleusen.

Kommen wir also zu den Ergebnissen. In der Befragung hat sich gezeigt, dass:

  1. Menschen, die sich selbst als „emotional stabiler / wenig neurotisch“ einschätzen, weniger wahrscheinlich gebissen werden. („Scoring as more emotionally stable/lower neuroticism by one a point change in score (between 1 and 7) decreased the likelihood of experiencing a bite by 0.77 times (95%CI 0.66 to 0.90, P=0.001.“) Ja, dieser Persönlichkeitstest wird von den Befragten selbst durchgeführt, es ist kein Therapeut und keine Gutachterin anwesend – und im Grunde wurden die, die sich selbst als emotional instabil oder hochneurotisch eingeschätzt haben (macht das irgendwer???), nicht häufiger gebissen. Zumindest habe ich keine andere Aussage in den Ergebnissen gefunden, auch wenn die Aussage in der Diskussion umgedreht wird.

Das N für diesen Abschnitt ist gering, weil insgesamt nur 172 Personen gebissen wurden, 13 diesen Persönlichkeitstest gemacht haben und sich von den 159 verbliebenen Personen nur ein Teil als „emotional stabiler“ eingeschätzt haben kann. Und die Forscher weisen wirklich permanent darauf hin, dass ihr Datensatz nicht groß genug für belastbare Aussagen ist.

  1. Männer werden mit einer 1,81mal erhöhten Wahrscheinlichkeit häufiger gebissen als Frauen. Woran das liegt, konnte mit den Fragebögen nicht erfasst werden. Wir hätten also das komplette Arsenal an Möglichkeiten zur Verfügung: Persönlichkeit, Erziehung, gesellschaftliche Unterschiede zwischen Mann und Frau, Biologie – greift einfach in den Regenbogen-Topf der fröhlichen Mutmaßungen.
  2. Menschen werden häufiger von fremden Hunden gebissen. Das ist insofern spannend, als immer wieder behauptet wird, die meisten Hundebisse passierten im eigenen Haushalt und würden von Hunden stammen, die bekannt oder sogar die eigenen sind.
  3. Halter von mehreren Hunden werden 3,3mal so häufig gebissen. Nirgends habe ich im Paper einen Hinweis darauf gefunden, wie viele Hunde „multiple dog owners“ eigentlich im Schnitt haben. Zwei? Drei? Zehn? Die ganze Kategorie macht keinen Sinn, wenn man nicht wenigstens mal versucht, zu berechnen, ob die Wahrscheinlichkeit gebissen zu werden nicht einfach ein Pro-Hund-Risiko ist…

Bis auf den letzten Punkt besprechen das die WissenschaftlerInnen auch – in gewählterem Wortlaut – in ihrer Diskussion. Und sie weisen sehr reflektiert darauf hin, dass weder aus vorherigen Studien noch aus ihren Fragebögen hervorgeht, wie der Hundebiss überhaupt entstanden ist. Ich bin einmal von einem unserer Hunde gebissen worden. Bis auf den Knochen. Als ich meinen Finger beim Spielen so unvorstellbar intelligent an die Beißwurst gehalten habe, dass der Hund ihn mit erwischte. Der Hund ließ sofort los, aber das Loch war trotzdem da. Das war kein Hundebiss, wie er sich in der Fantasie darstellt, wenn wir von beißenden Hunden sprechen. Es war einfach ein Missgeschick. Trotzdem wäre – in dem Szenario dieses Papers – das der einzige Hundebiss gewesen, von dem ich hätte berichten können.

Trotzdem finde ich diese Veröffentlichung eine wichtige – weil sie eben aufzeigt, dass im Sinne der Hundebiss-Prävention nicht einfach und ausschließlich darauf geschaut werden kann, welche Hunderasse man am besten ausrottet. Es gibt viele Faktoren, die eine gravierende Rolle spielen können und die müssen genauso erforscht werden wie das Verhalten des Hundes.

DAS wäre DIE Headline für eine gute Pressemitteilung und die vielen Artikel in der Presse gewesen:

„HUNDEBISS-PRÄVENTION: MENSCHLICHE EINFLÜSSE MÜSSEN ERFORSCHT WERDEN“

Zack. Pulitzerpreis.