Ein Plädoyer für die Rasse „Hund“
von Nora Brede
Phänotypisierung – das ist das Bestimmen der beteiligten Rassen an einem vermeintlichen Mischling anhand des Aussehens des Hundes. Dabei geht man anscheinend davon aus, dass alle vermeintlichen Mischlinge die direkten Nachkommen aus zwei reinrassigen Hunden sind. Und man geht davon aus, dass diese Elterntiere ihr Aussehen (und damit natürlich ihre rassetypischen Eigenschaften, die im Übrigen offensichtlich niemals variieren) jeweils zur Hälfte vererben und man das dem vermeintlichen Mischling deswegen auch direkt ansieht.
„Diese Rasse ist zur Zeit leider nicht verfügbar“? Egal!
Melde ich in der Schweiz einen Hund offiziell an, dann muss (!) ich angeben, aus was der Hund gemischt wurde. Auch dann, wenn die Rasse, zu der er tatsächlich gehört, einfach nicht in der vorhandenen Liste ist, weil es keine FCI-Rasse ist. Pockels ist jetzt ein Husky-Mischling. Weder ist sie ein Husky-Mischling, noch sieht sie aus wie einer, noch verhält sie sich so… und was sie von Winter und Kälte hält – da brauchen wir bei einer Kanarierin gar nicht darüber reden. Ich konnte nicht schreiben: “Grundfarbe weiss mit grauer Maske”, ich konnte der Datenbank – in Zeiten, wo wirklich praktisch jeder mindestens ein Smartphone mit Kamera besitzt – kein Foto beifügen. Sie ist jetzt eben ein Husky-Mischling. Natürlich hätte ich sie auch als Schäferhund-Mischling eintragen können – das habe ich aber nicht gemacht, weil Schäferhunde und ihre Mischlinge so ein wenig unter Vorurteilen zu leiden haben und in mindestens einem Schweizer Kanton nur einzeln geführt werden dürfen. Ich wäre ja schön blöd, wenn ich das machen würde…
Cockapucollador… ganz sicher.
Betrachtet man Hundevermittlungsseiten, dann wird man immer wieder auf die wildesten Profiphänotypisierungen stoßen: Der Hund wurde gefunden, ist aber definitiv im März 2013 geboren und ein Mischling aus Labrador und Schäferhund (Sattelzeichnung und Schlappohren). Oder Dackel und Jagdterrier (Tan-farben mit kurzen Beinen). Aus… Rumänien. Er ist ein Mix aus Husky und Malinois (hat ein andersfarbiges Auge und ist kurzhaarig). Kommt aus… Spanien. Wurde ausgesetzt, auf der Strasse gefunden, am Tierheim angebunden. Niemand kann wissen, wer die Elterntiere dieses Hundes waren. Niemand. Besonders witzig wird es, wenn ein Phänotypisierungsprofi versucht, alle vermeintlichen Merkmale zu erfassen: Vater Husky-Labrador-Mix, Mutter Border Collie-Pudel. Oder so.
Zwei Aspekte ärgern mich bei dieser nutzlosen Schubladisiererei:
Halter dieser Hunde tendieren immer wieder dazu, nicht mehr ihren Hund als Unikat zu sehen, sondern halten sich verzweifelt an vermeintlichen Rassemerkmalen fest, wenn es um die Eigenschaften des Hundes geht. Und dann ist der Schäferhund-Labbi plötzlich gar nicht nett zu Menschen oder hat kein Interesse an exzessivem Hundesport. Der Husky-Mix hütet die Hühner und der Dackel-Mix ist alles andere als ein selbstbewusster, eigenständiger kleiner Kerl. Die Gedanken drehen sich: Vielleicht kann man auch gar nichts machen, weil es ist eben ein Jagdterrier-Mix, der Malinois-Mix pöbelt eben, weil er Schutztrieb hat… und der Schäfer-Mix jagt halt. Ist halt so. Und auch wenn alles nicht so richtig passt, schafft es der Hund nicht mehr aus der Schublade heraus, in die er ursprünglich mal ohne Grund gesteckt wurde. Das ist ein wenig so, als wenn man behaupten würde, alle Blondinen wären doof.
Konsequenzen: Was, wenn der erste Eindruck trügt?
Aber was ist, wenn nicht? Was, wenn diese Eigenschaften als einzelne Facetten eben einfach auftreten? Was, wenn sie unabhängig voneinander auftreten und gar keinen Hinweis auf den ganzen Hund geben? Was, wenn sie nicht in Stein gemeißelt sind? Was, wenn ein Hund einfach ein Hund ist – mit Eigenschaften, die ausgeprägter oder weniger ausgeprägt sind, beeinflusst durch Gene und Gelerntem? Was, wenn in diesem Hund, der einem Labrador noch so ähnlich sehen mag, einfach kein Labrador drin ist? Sondern ein beige-farbener Hund mit Schlappohren? Was, wenn es einfach ein Hund ist, der an Chondrodysplasie leidet – ja, das ist das Merkmal, das bei Dackeln in den Rassestandard eingebaut wurde, aber es ist eben einfach nur ein genetischer Defekt, der immer wieder und völlig unabhängig von der Rasse Dackel auftreten kann.
Der zweite Aspekt ist – meines Erachtens – noch gefährlicher: Die Phänotypisierung von vermeintlichen Listenhund-Mixen. Halten wir fest, worüber ich jetzt einige Absätze geschrieben habe: Es ist bei der Vielfalt der existierenden Hunde schier NICHT MÖGLICH, anhand des Aussehens zu bestimmen, welche oder OB ÜBERHAUPT eine Rasse an einem Hund beteiligt waren. Nicht möglich. Geht nicht. Zu viel Varianz. Sorry.
Das schönste Beispiel aus den letzten Wochen möchte ich hier mal zeigen. Also dann…phänotypisieren wir mal:
Das hier wäre so ein mehr oder weniger typisches Foto, wie es immer wieder genutzt wird, um einzuschätzen, ob ein Hund ein Listenhund ist oder ein Mischling daraus. Eine “offizielle” Phänotypisierung nehmen Experten vor – Tierärzte, die… äh… das können. Wird ein Hund zu einem Listenhund-Mix erklärt, folgen im schlimmsten Fall drastische Maßnahmen: Abgabe, Leinen- und Maulkorbzwang, Wesenstest, massiv erhöhte Hundesteuer, … und die Stigmatisierung eines Tieres, das für seine vermeintliche Verwandtschaft nichts kann.
So, weiter gehts mit dem lustigen Phänotypisieren. Wir wechseln von Ganzkörper- auf Portraitaufnahme:
Kippohren, mesocephale Kopfform, aber vor allem: der Bollerkopf. Ein breiter Kopf mit markanten Ansätzen der Muskulatur, ausgeprägte Kieferlinie. Stämmiger Körperbau, schwarz, stechende Augen (der guckt ja auch schon so komisch!).
Ob das ein Mischling ist, an dem ein American Staffordshire Terrier beteiligt war? Oder ein Pitbull? Beide Rassen gelten auch heute noch in vielen Hundeverordnungen als gefährlich. Dieses Urteil wurde gefällt, ohne dass es dafür ausreichende und sinnvolle Daten oder Auswertungen gegeben hätte – der Halter wurde aus der Verantwortung genommen, die Rasse zum Problem erklärt. Ganz grosse, bürokratische Scheisse. Bla, bla.
Listenhund drin? Die Auflösung!
Gebt es zu – ihr wartet doch alle nur auf die Auflösung! Vorab: Die beiden Hunde oben sind Vollgeschwister. Und das hier sind ihre Eltern (schwört die Besitzerin von Jackson, dem oberen Hund, Stein und Bein):
Ja, ihr seht richtig: Mutti ist eine French Bulldog, Vati ist ein Labrador. Keiner von beiden ist ein Listenhund. Und ihre Nachkommen auch nicht. Und zumindest Jackson ist laut seiner Halterin ein Traumhund, der praktisch keinen einzigen charakterlichen Makel besitzt.
In diesem Fall kennen die Besitzer tatsächlich die Elterntiere ihres Hundes – und die Rassen, aus denen dieser Mischling entstanden ist. Zum Glück, kann man in der heutigen Zeit nur vermuten.
Hier sind zwei Hunde, nämlich zwei meiner eigenen, bei denen eine Phänotypisierung keinen Sinn macht:
Niels ist gemeldet als Dackel-Kurzhaarcollie-Mix (höhö) und Zwieback als, wenn ich mich recht erinnere, Rauhhaardackel-Corgi-Mix (öhöhö). Niels ist ein Hund aus Ungarn. Ich glaube nicht, dass je eine Rasse an ihm beteiligt war. Er ist cool, ein wenig terrierartig (sic), gemütlich, anhänglich, ein wenig prollig – er kann wenig ausser ordentlich pöbeln. Zwieback ist ein rumänischer Hund. Sie zeigt erstaunlich viele Merkmale eines Hütehundes, ihr “Eye” ist beeindruckend, wenn sie versucht, die anderen Hunde zu hüten. Sie ist misstrauisch, kläffig, sehr aufmerksam und anhänglich. Niels jagt maximal Mäuse. Zwieback reagiert auf Bewegungsreize, aber wirklich jagen? Neinein, viel zu gruselig.
Diese beiden Hunde aus dem Tierschutz mit völlig unbekannter Herkunft kennenzulernen, war ein tolles Erlebnis. Und es hätte keinen Sinn gemacht, sie in irgendeine Schublade stopfen zu wollen, sie hätten sich dort nur in Bruchteilen eingefügt – der Rest von ihnen hätte eckig und mit sauertöpfischer Miene aus dem zugewiesenen Fach gestiert und hin und wieder mal kernig geknurrt. Ich halte es lieber so: in ihrer Hundeschublade können sie sich frei entfalten – solange sie sich an die Regeln des Zusammenlebens halten und ein Nein akzeptieren.
Schubladen helfen nicht – sie behindern
Eigenschaften wie – flapsig ausgedrückt – Kläffigkeit, Freundlichkeit, Vorsichtigkeit, Reaktivität, Coolness, Gefräßigkeit, Aggressivität u.v.m. hängen von so vielen Faktoren ab – das kann man meines Erachtens nach nicht auf zwei bis x Rassen runterkochen und damit erklären, warum sich ein Hund so oder so verhält. Er ist einfach ein Hund – mit Genen, Eindrücken und Erfahrungen. Er hat Mist gelernt oder nie verboten bekommen. Er hat Tolles mitgebracht oder ist darin unterstützt worden. Er ist ein Individuum. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Zusammenleben konstruktiver wird, wenn man die Macken und Talente des eigenen Hundes als seine eigenen Errungenschaften und Eigenarten annimmt – und in der Schublade “Hund” genug Platz für seine Anpassungsfähigkeit und Individualität lässt.
Eines ist sicher: Fröhliches Rasseraten, wie es heute am Tag des Mischlingshundes vielfach begangen wird, macht keinen Sinn, denn die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Hund Rassen und nicht einfach nur Gene gemischt wurden, ist – sofern man die Elterntiere nicht kennt – vergebene Liebesmüh und ein Spaziergang auf in die Irre führenden Pfaden.