Wut ist wichtig
Was soll der internationale Frauentag auf dem Hundeplatz?
Veröffentlicht: 8. März 2023
Fragen und Konflikte rund um Gleichberechtigung enden nicht, wenn die Trainingsstunde anfängt. Ganz im Gegenteil – wir als Branche sollten uns mehr damit befassen.
Wer uns etwas kennt, ist vermutlich nicht überrascht, dass wir uns zum Weltfrauentag äußern. Wer neu hier bei uns ist (hi 🙂 ), für den ein paar Eckdaten: Wir sind ein frauengeführtes Unternehmen und damit schon eher außergewöhnlich (1). Wir arbeiten zudem überwiegend mit weiblichen Personen zusammen. Das ist weniger einer Strategie geschuldet als der Tatsache, dass über 80% der Hundetrainer*innen in Deutschland Frauen sind (2). Und wir setzen uns seit unserer Unternehmensgründung damit auseinander, was „Frau sein“ in unseren Rollen als Trainerinnen, Lehrende, Hundehalterinnen und Unternehmerinnen eigentlich bedeutet – in einer Gesellschaft, die nach wie vor in Sexismus getränkt ist (3).
Für uns ist also klar, dass das Thema nicht endet, sobald man eine Hundeleine in die Hand nimmt. Ganz im Gegenteil – wir als Branche sollten uns mehr damit befassen. Finden wir.
Aber dazu kommen wir gleich.
Zuerst: Das 20. Jahrhundert bietet beispielhaft drei Highlights in Sachen Frauenrechte:
- Frauen haben seit Januar 1919 das Recht zu wählen. In der Schweiz seit dem 16. März 1971. (Global sieht es anders aus: 4)
- In Deutschland dürfen Frauen seit 1958 arbeiten, insofern das nicht dazu führte, ihre ehelichen Pflichten – Haushalt, Ehe, Familie – zu vernachlässigen (5).
- Seit 1997 müssen wir Frauen nicht mehr ZWINGEND mit unseren Ehemännern Sex haben oder sie gewähren lassen. In Deutschland ist eine Vergewaltigung in der Ehe also erst seit 25 Jahren eine Straftat. (In Österreich streng genommen erst seit 2004, also seit verdammten 18 Jahren! 6)
Wow. Wie… nett, dass man(n) uns das alles zugestanden hat. Denn genau das ist es: ein Zugestehen, das mühsam erkämpft wurde, aber mit einem Fingerschnipsen wieder zurückgenommen werden kann.
Denn: Diese Rechte sind nicht selbstverständlich. Sie sind nur Zwischenergebnisse langer Kämpfe, die gerade wieder neu entfachen. Sie können erstaunlich schnell wieder verschwinden, wie beispielsweise letztes Jahr in den USA (7). Egal, ob eine Frau vergewaltigt wurde oder ihr droht, durch eine Schwangerschaft zu sterben – sie hat keine Rechte mehr an ihrem eigenen Körper und muss gebären oder sterben. Nicht mehr und nicht weniger haben die obersten Richter und Richterinnen des Landes, in dem alle Träume wahr werden, beschlossen.
Land of the Free. Zumindest, solange man keinen Uterus hat.
Aber wir zoomen jetzt von der Totale der ganz großen weltpolitischen Entwicklungen zurück auf den Hundeplatz. Wir können das Augenrollen sehen, das vor vielen Bildschirmen entsteht, wenn dieser Text aufploppt, und die Gedanken fühlen, die wir so auch immer wieder als Kommentare unter ähnlichen Themenpostings lesen: Also ich bin noch nie diskriminiert worden (8)… in Deutschland ist doch Gleichberechtigung erreicht (9)… Genderwahnsinn (10)…
Das Training von Hunden und deren Menschen war lange eine Männerdomäne, inzwischen aber können wir mit Fug und Recht von einem Frauenberuf sprechen – einem, der sehr typisch ist: überwiegend selbstständige prekäre Arbeit, wenig soziale Anerkennung, kaum Absicherung, vergleichsweise niedrige Verdienste.
Vereinbarkeit? Naja.
Unsere Kollegin Nina Dany hat sich ihre Erfahrungen von der Seele geschrieben (11): In einer Familie sind häufig die Ehemänner die Hauptverdiener (das lohnt sich, weil das Ehegattensplitting Partnerschaften steuerlich belohnt, bei denen eine*r nur vergleichsweise wenig verdient, und Männer tendenziell mehr verdienen, weil, naja: Willkommen im Patriarchat 🙂 ) – und die Frauen die Hauptsorgenden: für die Familienorganisation, für die Betreuung der Kinder, für die Hausarbeit: Diese so genannte „Care“- oder Sorgearbeit wird nicht bezahlt, nicht gesehen, und überwiegend von Frauen geschultert. Für die Rente bringt das leider wenig, die Altersarmut winkt schon am Horizont. Und bricht die Ehe vorher auseinander, steht Frau mit hoher Wahrscheinlichkeit alleinerziehend und armutsgefährdet da. Was mit ein Grund dafür ist, dass Frauen in gewalttätigen Partnerschaften bleiben, übrigens (12).
Riskante Arbeitsbedingungen
Apropos Gewalt: Hundetrainer*innen arbeiten unter Bedingungen, die sie besonders vulnerabel machen. Der abgelegene Platz am Rande des Industriegebiets, der Hausbesuch bei Fremden, die Einzelstunden früh morgens oder abends kurz vor Feierabend im Wald / im Dunkeln. Halterinnen, die mit ihren Hunden in Parks, in der Feldmark oder dem Forst spazieren gehen, begeben sich in ähnlich potenziell riskante Situationen. Aber um nicht nur das alte Bild vom gefährlichen fremden Mann zu bemühen: Die meisten Gewalttaten gegen Frauen finden im sozialen Nahraum statt (13) – begangen z.B. vom Freund. Oder auch vom Lernpartner in der Ausbildung, bei der Jahrgangsparty auf dem Campingplatz oder vom Ausbilder, der immer so besonders aufmerksam war. Unsere Dozent*innen werden deshalb vor ihrem Einstieg über diese Problematik aufgeklärt, unsere Teilnehmenden erhalten verschiedene, auch anonyme Möglichkeiten, uns problematisches Verhalten rückzumelden.
Frauen lernen von klein auf, mit dieser omnipräsenten Bedrohungslage umzugehen, die Sicherheitsprotokolle laufen im Hintergrund mit. Die meisten Männer sind naiv, wenn es um reale Gefahren für Frauen geht, die sie selbst so vermutlich nie erleben werden. Ihre Mütter haben ihnen keine Regelwerke mit auf den Lebensweg gegeben: „Melde dich nur mit ‚Hallo‘ am Telefon!“, „Setz dich niemals zu einem Fremden ins Auto und im Taxi nie auf den Beifahrersitz!“, „Es muss immer jemand wissen, wo du bist!“, „Gib nie deine Telefonnummer und schon gar nicht deine Adresse heraus, wenn du nicht ganz sicher bist, dass dir nichts passieren kann!“ und „Lauf immer da, wo auch andere Menschen sind!“
Wir bewegen uns also, man kann das nicht deutlich genug sagen, in einer Welt zwischen Diskriminierung und Gefahr. Potenziert wird das noch, wenn die Frauen außerdem queer sind, von Rassismus betroffen, oder eine Behinderung haben (14).
All das bringen Frauen mit in ihre Rolle als Hundetrainerin oder als Kundin bei uns auf dem Platz. Die Art und Weise, wie das Geschlecht unsere Realität prägt, endet nicht, wenn die Hundestunde beginnt. Die Ausübung unseres Berufs findet in dieser Realität statt.
Das ist oft mit Nachteilen für Frauen verbunden. Aber, um diesen Stimmen zuvorzukommen: auch für Männer. Die Ansprüche, die an Männlichkeit gestellt werden, sind spiegelverkehrt rigide und absurd: ein sanfter Mann, der kein Interesse an einer Führungsposition und seine Hunde „nicht im Griff hat“? Ein berufstätiger Mann, der ein aktiver, anwesender Vater sein und nicht nur Geld nach Hause bringen will? Ein Mann, der über emotionale Belastungen offen sprechen will und – [bitte spirituelle Entität wählen] bewahre – weinen muss? Die Sanktionen für solches Verhalten reichen von subtil bis explizit, von Spott bis Ausgrenzung.
Randalieren oder Relaxen?
Als wir über diesen Text und seine Ausrichtung im Team diskutiert haben, schwankten wir zwischen dem Impuls nach wütender Randale und dem Wunsch nach Relaxen: der Aufforderung, sich heute etwas Gutes zu tun und sich darüber zu freuen, was die Frauen, die vor uns kamen, schon alles erreicht haben. Lass‘ Dich feiern! Lass‘ es Dir gut gehen! Sorge für Dich!… Und dem Zorn darüber, wie viele Kämpfe noch auszufechten sind. Sei laut! Nimm‘ Raum ein! Halte die Männer in Deinem Leben in der Verantwortung! Überhaupt, ihr Männer: nehmt Eure Verantwortung ernst! Wir wollen in einer Welt leben, in der nicht Mütter ihren Töchtern erklären, wie sie sich schützen, und Frauen nicht darin gecoacht werden, wie sie sich am besten in einer männerdominierten Arbeitswelt durchsetzen. Wir wollen in einer Welt leben, in der Väter ihren Söhnen Grenzen und körperliche Autonomie erklären, und es in der Arbeit nicht so aussieht, wie alte weiße Männer es definiert haben, denen ihr Leben lang der Rücken von einer unsichtbaren Frau im Hintergrund freigehalten wurde.
Deshalb brauchen wir Wut.
Wut ist wichtig, um voranzukommen. Selbstfürsorge ändert nicht das ungerechte System. Selbstfürsorge macht uns besser darin, das ungerechte System zu ertragen. Andererseits: Gerade für Frauen kann Selbstfürsorge ein quasi revolutionärer Akt sein. Denn Frauen sind aufopferungsvoll, duldsam, still – von Natur aus (*hust*). Wie wenig naturgegeben das tatsächlich ist, sieht man spätestens daran, wie viel Mühe aufgewendet wird, um Frauen in dieser Rolle zu halten – wie heftig das abstrafende Feedback ist, wenn Frauen laut sind, Autorität einfordern oder Schmerzen äußern: Herrisch, zickig, hysterisch werden wir dann genannt – und mitunter sterben wir deswegen, weil z.B. Behandlung verweigert wird, weil Symptome nicht ernst genommen werden, weil medizinische Studien einfach Frauenkörper ignorieren (15). Und auch da sind wir prompt wieder in unserer eigenen Lebensrealität:
Heute darf zum Beispiel häufiger über das Thema Menstruation gesprochen werden, auch am Arbeitsplatz. Es gibt inzwischen sogar Unternehmensberatungen, die vorschlagen, die Zyklen ihrer Mitarbeiterinnen zu berücksichtigen, um insgesamt die Arbeitsleistung zu verbessern und die unterschiedliche körperliche und emotionale Verfassung optimal für die Arbeit zu ermöglichen. Die meisten Frauen leiden an Regelschmerzen (16), d.h. sie haben in irgendeiner unangenehmen Art und Weise mit körperlichen und oder emotionalen Beschwerden zu tun. Jeden Monat. Häufig massiv. Und ohne, dass eine Selbstverständlichkeit darüber besteht, das auch nur äußern zu dürfen. Frau ist schließlich kein Jammerlappen. Schweigen, Aushalten und mit Medikamenten niederknüppeln – so haben es vermutlich die meisten Frauen gelernt, auch wenn besonders die letzte Maßnahme teils mit großen gesundheitlichen Risiken einher geht, ja, tödlich enden kann (17).
„Hundstage“ bei KynoLogisch
Das darf sich ändern, finden wir. Bei uns werden ab dem kommenden Monat ganz offiziell die Hundstage eingeführt. Das ist ein monatlicher Sonderurlaubstag, der zur freien Verfügung steht, unabhängig vom Jahresurlaub ist und am Ende des Monats verfällt. Wofür er genutzt wird, bleibt allen Mitarbeitenden selbst überlassen: für einen Durchatmen-und-mit-dem-besten-Freund-ventilieren-Tag für Kolleg*innen, die gerade in einer schwierigen Lebenssituation sind? Behördengänge? Zahnarztbesuche? Und für einen Mit-Wärmflasche-auf-der-Couch-vegetieren-und-Schmerztabletten-wie-Smarties-essen-Tag für die Kollegin? Ja. Wir wollen ein Umfeld schaffen, in dem niemand das Gefühl hat, für Anerkennung und Job die eigene körperliche und psychische Gesundheit auf’s Spiel setzen zu müssen. Auch das ist Feminismus.
Und damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt: In unseren Augen gilt es anzuerkennen, dass wir als Frauen nicht aufholen müssen, nicht genauso stark, cool, sachlich (*hust), schnell, tough sein müssen wie Männer. Wir sind Frauen und darin stark, cool, sachlich (*hust), schnell und tough. Wir sind nicht besser, aber auch und vor allem nicht schlechter. Wir sind Frauen und Gleichberechtigung heißt, dass Jede*r einfach so sein darf, wie es dieser Person am besten liegt. Als Menschen sind wir alle gleich – unser Wert unterscheidet sich nicht. Die Unterschiede in den Geschlechtern vermengen sich mit denen von Persönlichkeiten, Vorlieben, Abneigungen, gelebten Werten. Diese Vielfalt birgt kein Argument zur Entmenschlichung einzelner und schon gar nicht der Hälfte der Weltbevölkerung.
Bildet Banden!
Mitunter spricht sich nur langsam herum, dass Gleichberechtigung nicht bedeutet, dass wir Frauen wie Männer sind, sein wollen oder sein können. Was stimmt und wofür wir kämpfen: Wir sind gleich viel wert – vollkommen unabhängig davon, worin wir uns von anderen Geschlechtern unterscheiden. Auch als Hundetrainer*innen können wir – und sollten wir – dazu beitragen, dieses System an Ungerechtigkeit nicht aufrechtzuerhalten. Eine Strategie: Selbstreflektion. Mit wem arbeite ich eigentlich zusammen? Wessen Expertise empfehle ich Kolleg*innen und Kund*innen? Welche Vorurteile fließen möglicherweise in meinen Umgang mit Hundehalter*innen ein und wie blockiert das ggf. das Training? Wie sind die Strukturen in meinem Unternehmen und wo haben sie vielleicht unterschiedliche Auswirkungen auf Männer und Frauen? Eine weitere Strategie: Bildet Banden! Gewerkschaften, Netzwerke, Berufsverbände, Trainer*innentreffs – all das sind Orte, an denen Interessen von Gruppen organisiert und laut vorgetragen werden können.
Quellen (zuletzt abgerufen am 8. März 2023):
- https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/frauen-fuehrungspositionen.html
- https://www.wuff.eu/wp/studie-hundetrainer-typen-zwischen-wunsch-und-wirklichkeit/
- https://kynologisch.net/warum-gendern-nervt-und-wir-es-bei-kynologisch-trotzdem-machen/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenwahlrecht
- https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenarbeit
- https://www.bundestag.de/resource/blob/407124/6893b73fe226537fa85e9ccce444dc95/wd-7-307-07-pdf-data.pdf
- https://www.deutschlandfunk.de/texas-usa-abtreibung-verboten-100.html
- https://www.ifo.de/DocDL/sd-2022-albrecht-rude-geschlechtergleichheit-deutschland.pdf
- https://www.spiegel.de/geschichte/150-jahre-218-nieder-mit-dem-abtreibungsparagrafen-a-5d67ae86-15a0-4b29-83af-5dcb74434a3b
- https://www.genderleicht.de/wissen/
- https://kynologisch.net/hundetraining-elternschaft/
- https://www.bmfsfj.de/resource/blob/93970/957833aefeaf612d9806caf1d147416b/gewalt-paarbeziehungen-data.pdf
- https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/infothek/gewalt-gegen-frauen/gewalt-gegen-frauen-merkmale-und-tatsachen.html
- https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/forschungsprojekte/DE/Expertisen_Mehrdim_Diskr_emp_u_jur.html?nn=305438
- https://www.gesundheit.gv.at/gesundheitsleistungen/medikamente/gender_arzneimittel.html
- https://www.deine-gesundheitswelt.de/balance-ernaehrung/regelschmerzen
- https://www.tk.de/techniker/gesundheit-und-medizin/behandlungen-und-medizin/arzneimittel-medizinische-hintergruende/pille/nebenwirkungen-2066572?tkcm=ab