Neuerscheinung: Aggressionsverhalten beim Hund
von Jennifer Rotter
Das Buch „Aggressionsverhalten beim Hund“ von Nora Brede, Ute Heberer und Normen Mrozinski wird ein neues Standardwerk zum Thema werden. Wie keines zuvor im deutschsprachigen Raum verbindet es Wissenschaft, Praxiserfahrung und Fallbeispiele von drei hocherfahrenen ExpertInnen. Mit unserer Dozentin Ute und KynoLogisch-Mitgründerin Nora haben wir über das Buch gesprochen: Welche Hunde haben die meisten Schwierigkeiten mit Aggression? Welche Trainer sollten mit aggressiven Hunden arbeiten, welche nicht? Wie häufig ist Angstaggression tatsächlich? Und wer ist Chico Rammelmeier? 😉 Bei dem Interview ist uns passiert, was immer passiert, wenn man sich richtig gut unterhält: wir haben nicht wirklich ein Ende gefunden. Wir wünschen Euch viel Spaß beim Nachlesen. Und kocht Euch vorher einen Kaffee!
Interview mit Ute Heberer und Nora Brede
KynoLogisch: Ute, Nora – ihr habt ein Buch geschrieben! War das Euer Erstes? Und: wie geht es Euch?
Ute: Es war mein erstes Buch und es hat mir sehr viel Spaß gemacht! Eine tolle Erfahrung – die mich einige Lebensjahre gekostet hat (lacht). Wie fühle ich mich? Es ist eine Mischung zwischen Stolz und Erwartung… hm, wie soll ich es sagen? Furcht ist zu viel gesagt, aber in vier Wochen weiß ich mehr, wenn die Leute mal reingeguckt haben. Wenn ich ein paar Rückmeldungen habe, geht es mir wahrscheinlich etwas besser. Momentan bin ich in einem Schwebezustand.
Nora: Es war eine sehr, sehr coole Erfahrung. Und ich glaube, ich habe noch nie so viel gelernt, während ich ein Buch geschrieben habe. Es war zwar nicht mein erstes, aber mein erstes rund um Hunde. Wie es mir geht? Ich bin freudig-angespannt – hoffentlich gefällt das Buch den Lesern!
Ute, warum hast Du ein paar Lebensjahre verloren?!
Ute: Naja, wir hatten einen ganz schönen Termin- und Leistungsdruck. Das war nervenaufreibend!
Nora: Es hat auch viel Nerven gekostet, weil für so ein Gemeinschaftsprojekt doch relativ wenig Zeit angesetzt war. Ich bin ja z.B. später eingestiegen. Ursprünglich sollte ich nur die Fotos machen, als Autorenteam waren Ute und Normen Mrozinski vorgesehen. Und wenn dann eine dritte Autorin dazukommt und sich erst eingrooven muss – das bringt natürlich Aufruhr in die Strukturen.
„Man kann nicht pauschal sagen: „Bei einem aggressiven Hund mache ich immer das und das“. Es gibt keine Pauschalen, sondern jede Aggression muss individuell gesehen werden, eben weil sie ein Gespräch ist. “
Mit welchem Ziel habt ihr das Buch geschrieben?
Ute: Ich möchte, dass die Menschen verstehen: Aggression ist keine Eigenschaft, sondern eine Kommunikationsform, ein Gespräch. Und es ist so wichtig zu erkennen, dass es verschiedene Motivationen, Ursachen und Formen von Aggression gibt. Man kann eben nicht pauschal sagen: „Bei einem aggressiven Hund mache ich immer das und das“. Es gibt keine Pauschalen, sondern jede Aggression muss individuell gesehen werden, eben weil sie ein Gespräch ist. Und für diese Gesprächsform erhoffe ich mir ganz, ganz viel Verständnis.
Nora: Ich erhoffe mir etwas Entzauberndes, etwas Entmystifizierendes. Ich erhoffe mir, dass es deutlich macht, dass Aggression nicht das Resultat von Fehlern ist oder von irgendetwas Rechtswidrigem, und auch kein endgültig gesprochenes Urteil. Ich erhoffe mir, dass gerade die Fallbeispiele deutlich machen, dass Aggression ein Kommunikationsmittel ist, wie Ute sagt. Da sehe ich auch den Unterschied zu der Literatur, die ich zu dem Thema bisher gelesen habe. Die ist entweder sehr biologisch oder sehr verurteilend. Wo man gerade als Halter eines aggressiven Hundes am Ende ganz dramatisch das Gefühl hat, dass irgendwas total schiefgelaufen ist und dass man etwas kolossal falsch gemacht hat. Und das ist das, was wir hoffentlich mit diesem Buch zumindest mal in Frage stellen können, wenn wir es schon nicht auflösen können.
Warum das Thema Aggression? Was waren Eure jeweils persönlichen Gründe, über dieses Thema ein Buch schreiben zu wollen?
Nora: Das ist meine Lieblingsfrage! Als ich 17 war, habe ich mir in meinem Leistungsfach Biologie das Thema Aggression für eine Semesterarbeit ausgesucht. Ich habe die Sachen gelesen, die damals dafür relevant waren. Ich habe mich also ganz intensiv mit der Aggression im Tierreich auseinandergesetzt und mich da schon in dieses Thema verliebt. Und dann, viel später, kam Anti, mein Wolfhund-Schäferhund-Mix. Anti gehört zu den Hunden, von denen Ute sagt, dass sie Spaß daran haben, sich zu kloppen. Das Problem ist, dass Anti vollkommen selbstständig denkt und handelt. Man muss ihm also im Grunde immer verbieten, diesen Spaß zu haben. Aber ich und meine Wünsche an ihn hatten bei Anti nie so eine wahnsinnig hohe Priorität. Dazu kam, dass ich nicht richtig an ihn herankam. Am Anfang habe ich mich deshalb mit diesem Tier ziemlich abgeackert. Es hat einen relativ dramatischen Zwischenfall gebraucht, bis ich das so angegangen und in den Griff bekommen habe, dass ich besser mit seinem Potenzial zurechtgekommen bin. Inzwischen haben wir das wirklich gut in den Griff gekriegt. Und als ich jetzt das Angebot bekommen habe, die Fotos für das Buch zu machen, war ich hellauf begeistert! Denn ich konnte im Grunde einen Faden wieder aufgreifen, den ich schon in der Schulzeit begonnen habe, zu spinnen.
„Persönlich hatte mich Aggression lange abgeschreckt. Heute finde ich Aggression eine wunderbare Art der Kommunikation, weil sie sehr klar und deutlich ist und eben auch Entscheidungen bringt. So ein „Jein“ bringt einen ja nicht wirklich weiter.“
Ute: Vom Sternzeichen her bin ich ja Krebs. Die sind ausgesprochen harmoniesüchtig und entsprechend war das Thema Aggression für mich aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus so ein ein Lebensthema. Persönlich hatte mich Aggression lange abgeschreckt. Aggression war mir ganz, ganz arg zuwider. Aber über die Hunde habe ich viel dazu gelernt. Denn in den 26 Jahren Tierheim habe ich erlebt, was Aggression bedeutet, habe gelernt, damit umzugehen, sie zu schätzen und ich habe tatsächlich auch viel Spaß daran entwickelt. Heute finde ich Aggression eine wunderbare Art der Kommunikation, weil sie sehr klar und deutlich ist und eben auch Entscheidungen bringt. So ein „Jein“ bringt einen ja nicht wirklich weiter. Diese Klarheit dagegen, die oft durch Aggressionsverhalten entsteht, das fasziniert mich immer wieder. Auch die Körpersprache der Hunde dabei – ich liebe es einfach. Zu beobachten, wie vielfältig Hunde im Aggressionsbereich kommunizieren können, wie fein abgestimmt, und die entsprechende Reaktionen der Anderen – ich kann mich einfach nicht sattsehen daran. Ich beobachte inzwischen auch artübergreifend aggressive Kommunikation neugierig, das Thema ist zu meinem Herzensthema geworden. Ich glaube sogar, dass ich dadurch heute in der Kommunikation aggressiver bin. Aber: ich finde das ehrlicher! So möchte ich eine Brücke schlagen, denn gerade im Tierheimbereich oder als Hundetrainer wird wieder ein normalerer Umgang mit Aggression dringend immer wichtiger. Ich wünsche und hoffe so sehr, dass wir vielleicht ein Stück weit dazu beitragen konnten, dass Hunde in ihrem Sozialverhalten mit all seinen Facetten besser verstanden werden. Und dass die Menschen erkennen, das Aggressionsverhalten zwar oft störend und unangenehm sein kann, es aber absolut normal ist!!!
Ute, kannst Du Dich noch genau daran erinnern, was Deine Haltung zu Aggression verändert hat?
Ute: Ja: Zu sehen, dass sich die Hunde gestritten haben, ohne dass man sich hinterher wochenlang böse sein muss, zu sehen, dass durch so ein Streitgespräch auch Entscheidungen getroffen werden, und vor allem zu sehen, dass man sich eben nicht immer gleich an die Wäsche gehen muss. Das ist ja so eine Befürchtung, die man hat: dass Aggression sofort ausartet, ausufert, sehr körperlich wird. Bei den Hunden konnte ich aber immer wieder beobachten, dass man sich auch auf Distanz sehr gut streiten kann. Dass man seine Stellung beziehen oder auch nachgeben kann, ohne das Gesicht zu verlieren – eben die ganze Bandbreite der Aggression, und das ohne jeden Körperkontakt. Das war und ist immer sehr spannend zu sehen. Aggression heißt ja nicht immer gleich, dass ich böse bin oder handgreiflich werde, sondern es geht um klare Argumente und große Deutlichkeit.
Ihr beschreibt beide Aggression als etwas, das spannend ist, ja sogar positiv. Ein normaler Hundebesitzer dürfte es vermutlich anders erleben, wenn sein Tier andere Hunde oder sogar Menschen verletzt. Würdet ihr für einen anderen Umgang mit hündischer Aggression plädieren?
Ute: Ja! Man muss es schaffen, Menschen verständlich zu machen, warum Hunde mitunter aggressiv kommunizieren. Wenn man das erstmal runterbricht auf eine Kommunikationsform und nicht als negative Eigenschaft eines Tieres sieht, bekommt man gleich ein ganz anderes Verständnis dafür und kann entsprechend anders damit umgehen. Wenn man dann noch weiß, dass Hunde ausgesprochen opportunistisch und egoistisch sind und auch kein schlechtes Gewissen kennen, kann man fair und „auf Augenhöhe“ antworten. Manchmal haben sie ja auch einfach nicht gelernt, sich zurückzunehmen.
„Ein Kollege von mir sagt immer ganz nett, wenn Hunde sich streiten: `Böse Wörter darf man sagen, aber das Messer bleibt bitte in der Tasche!´.“
Man muss solchen Hunden auch mal beibringen, dass man nicht gleich aus Frust oder mangelnder Impulskontrolle draufhaut. Ein Kollege von mir sagt immer ganz nett, wenn Hunde sich streiten: „Böse Wörter darf man sagen, aber das Messer bleibt bitte in der Tasche!“. Hunde verstehen das viel schneller und leichter, wenn man nicht übervorsichtig herumdoktort, denn das ist ihre Sprache. Wenn der Hund mich anknurrt und ich ihm in der gleichen Deutlichkeit sage, dass er es bleiben lassen soll, versteht er das sehr gut. Es ist natürlich Kommunikation und manchmal muss man dann mit den Antworten leben – aber meistens sind sie doch sehr einsichtig (lacht).
Nora: Was Ute beschreibt, ist der einzig sinnvolle und kluge Ansatz. Das Problem ist aber größer, glaube ich. Unsere Kultur und unsere Medien haben Aggression zu etwas ganz Furchtbarem gemacht. Und heutige Diskussionen über gefährliche Hunde basieren auf einer sehr belastenden Vorgeschichte, die mit viel Stigmatisierung einhergeht. Ich glaube deswegen, dass man diesen rationalen Ansatz von Aggression als normalem Kommunikationsverhalten von Hunden so ja gar nicht mehr aufgreifen kann.
„Ein Hund, der seine Zähne einsetzt, wird ja in null Komma Nix aufgeblasen zu einem potenziellen Massenmörder.“
Der Leidensdruck von Haltern mit Hunden, die Aggressionsverhalten zeigen, ist deshalb so groß, weil immer sofort eine Verurteilung stattfindet. Ein Hund, der seine Zähne einsetzt, wird ja in null Komma Nix aufgeblasen zu einem potenziellen Massenmörder. Das ist die Problematik, um die es da in vielen Fällen geht. Und dann kommen auch noch Schuld und Scham dazu. In dem Moment, in dem ein Hund auch nur in irgendeiner Form Aggression zeigt, wird ihm ja ganz häufig der soziale Kontakt zu anderen Hunden verboten oder es wird alles vermieden, was dieses Verhalten hochbringen könnte. Da bekommst Du Hunde, die keine Erfahrung gesammelt haben mit dieser Form der Kommunikation. Und so sehr es natürlich in ihrem Naturell liegt, zu verstehen, was ein aggressives Argument ist, denke ich, dass man inzwischen doch mehr Hunde findet, die nicht gelernt haben, angemessen aggressiv zu kommunizieren. Solche Hunde sieht man heute, zumindest gefühlt, häufiger. Und das macht natürlich diesen Komplex so viel größer und so viel relevanter. Oder, Ute, was meinst Du?
Ute: Da hat Nora vollkommen recht. Es gibt sie immer mehr. Das war einer der Gründe, die mich bewogen haben, bei dem Buch mitzumachen. Und es gibt immer weniger Menschen, die es als eine natürliche, normale Kommunikation sehen, wenn Hunde aggressiv reagieren. Bei uns kommen die Hunde an, und das erste, was sie lernen, ist, adäquat zu kommunizieren. Auch im Aggressionsbereich. Wenn als Welpe einigermaßen eine Sozialisierung stattgefunden hat, können Hunde zeitlebens auf diese Erfahrung zurückgreifen und tun dies unabhängig von schlechten Erfahrungen auch später noch. Hunde können alle kommunizieren – manchmal ein bisschen unbeholfen, manchmal ein bisschen plump, aber sie lernen das.
Ich erinnere mich an einen Bauernhofhund meiner Kindheit, der kommen und gehen konnte, wie er wollte. Der brachte öfter mal einen Schmiss mit nach Hause, schlief sich dann im Stall aus und das war’s. So eine Art der Hundehaltung ist heute aber auch nicht mehr wirklich vorstellbar, oder?
Ute: Als ich noch klein war, hatten wir so einen Lassie-Collie. Der war immer unterwegs, es gab im ganzen Ort viele Colliemischlinge (lacht). Und die Leute hatten kein Problem damit. Mein erster eigener Hund war ein Rehpinscherverschnitt. Wir nannten ihn nur Chico Rammelmaier, da war der Name Programm. Der hat seine obligatorischen Runden gedreht und kam wieder heim.
In der Stadt zum Beispiel kann man ja aber nicht einfach seinen Hund frei herumstreunen und aggressiv kommunizieren lassen. Es ist eng, voll und gefährlich. Können Hunde das also vielleicht alles nicht mehr, weil wir ihnen einfach zu viel zumuten?
Ute: Man kann ja nicht sagen: die Hunde dürfen jetzt überhaupt nicht mehr aggressiv kommunizieren. Man kann aber ganz sicher in der Stadt dafür sorgen, dass Hunde sich nicht anrempeln und beschnuppern und eben an der Leine erst gar nicht in engere persönlichere Kommunikation gehen. Denn zu sagen: „Du darfst nur noch freundlich kommunizieren!“ ist eine Zumutung für die Hunde und außerdem nicht artgerecht.
„Dass Hunde nur als personifizierte Pazifisten ihre Touren machen dürfen, ist biologisch gesehen vollkommener Quatsch.“
Nora: Es ist die Frage, ob wir den Hunden zu viel zumuten. Wenn, dann in dem Sinne, wie Ute es gerade beschrieben hat. Nämlich, dass Hunde nur als personifizierte Pazifisten ihre Touren machen dürften. Und das ist biologisch gesehen vollkommener Quatsch. Jeder Hund wird dort, wo er sich zu Hause fühlt, sein Revier haben, und wird dort Hunde finden, mit denen er entweder den Chico Rammelmaier machen möchte oder die er verscheuchen will, um es mal freundlich zu sagen. Ich glaube schon, dass Hunde per se es ohne Probleme meistern könnten, sich mit anderen Hunden auseinanderzusetzen. Auch aggressiv. Sicher kann das auch mal schiefgehen, aber in den allermeisten Fällen wird es gut gehen. Den ein oder anderen wird es natürlich auf die ein oder andere Weise ins Jenseits befördern. Das könnte man vielleicht den Hunden sogar zumuten. Aber bei dem veränderten Status des Hundes als unserem Freund und Weggefährten kann man das tatsächlich den Menschen nicht mehr zumuten. Und was die Gefahren einer Stadt angeht: Man sieht in den Großstädten, dass Hunde sehr wohl lernen können, damit umzugehen. Ich kannte mal einen Hund, der ging mitten in Frankfurt allein spazieren. Im Viertel kannten ihn alle, haben ihn gegrüßt und irgendwann ist er immer zurückgekehrt. Die Frage ist nur, was passiert, wenn sie es nicht gelernt haben. Wie zum Beispiel der junge Rüde in Nürnberg, der über eine vierspurige Straße rüberpfiff, um meinem Rüden Anti die Meinung zu sagen. Bei so etwas kommt dann auch immer das Problem dazu, dass man Menschenleben gefährdet: Wenn in dem Moment ein Auto ausgewichen wäre, wären vielleicht Passanten oder der Fahrer zu Schaden gekommen.
Ute, gab es schon mal eine Aggression bei einem Hund, die dich persönlich an Deine Grenzen gebracht hat? Wenn ja, wie war das und wie bist Du damit umgegangen?
Ute: Am meisten beeindruckt hat mich ein Rottweiler-Rüde. Ein geiler Hund! Für Außenstehende hatte er keinerlei Aggression gezeigt, aber er hatte einen unglaublichen Blick und eine wahnsinnige Präsenz. Ich habe meine Mitarbeiter gewarnt: „Passt bloß auf, der ist brandgefährlich“. Es hat mir nur keiner geglaubt, denn sie konnten mit ihm spielen, ihm Dinge aus dem Mund nehmen, alles. Wenn ich aber dazu kam, hat er mich mit Blicken bedacht, dass mir eisekalt wurde. Und das, ohne auch nur einmal die Lefzen zu heben oder die Zähne zu zeigen. Er hat später sehr schwer verletzt. Zum Glück konnten wir ihn zu einem Sicherheitsdienst geben, wo er genau das machen konnte, wozu er gezüchtet worden war.
Welche Aggressionsformen begegnen Dir denn in Tierheim und Training am häufigsten?
Ute: Wir haben sehr häufig mit territorialer Aggression zu tun. Meiner Meinung nach auch deshalb, weil sehr viele osteuropäische Hunde den Markt überschwemmen und die das verstärkt mitbringen. Dazu kommt statusbedingte Aggression. Die vielen, vielen jungen Rüden, die bei uns abgegeben werden, haben häufig Probleme mit Statusfragen. Manchmal sind auch ein paar dabei, die so ein bisschen aus Unsicherheit aggressiv reagieren, aber das sind vergleichsweise wenige und nicht so das Problem.
„Ein Aggressionsproblem des Hundes bedeutet noch lange nicht, dass die Halter grundsätzlich versagt haben.“
Gibt es etwas, was Du gern allen HalterInnen aggressiver Hunde mit auf den Weg geben würdest?
Ute: Hm….die Leute kommen fast immer mit einem schlechten Gewissen: „Der arme Hund, ich habe alles falsch gemacht, ich werde ihm nicht gerecht, ich bin schuld!“ und so weiter. Mir ist wichtig, dass sie verstehen: Die meisten Aggressionsformen sind vollkommen normal und in manchen Hundetypen auch gewünscht oder gezüchtet. Ein Aggressionsproblem des Hundes bedeutet deshalb noch lange nicht, dass die Halter grundsätzlich versagt haben, nur, weil sie ihren Hund einfach nicht hinbekommen, wie es die Gesellschaft fordert.
In Deinem Tierheim (hier geht’s zu T.i.N.O) werden Hunde schon sehr lange in Gruppenhaltung gehalten. Welche Herausforderung stellt Aggression hier dar und habt ihr viel damit zu tun, sie zu managen?
Ute: Das allerwichtigste in der Gruppenhaltung ist Struktur. Man muss Strukturen vorgeben, Regeln einhalten und einfordern. Hunde, die neu dazu kommen, verstehen diese Regeln fast immer sehr schnell, ohne, dass man extra alles noch einmal erklären muss. Eine Herausforderung sind Hunde, die nicht gelernt haben, mit Artgenossen vernünftig umzugehen, und immer gleich auf Angriff schalten. Das kriegt man zwar meistens relativ gut und schnell raus. Es gibt aber auch Hunde, bei denen das schwer oder einfach unmöglich ist – ja, auch rassebedingt. Und damit meine ich nicht nur die so genannten Kampfhunde. Sondern man denke zum Beispiel an Hütehunde, die sehr schnell und hysterisch reagieren und gerne mal die Nerven verlieren, weil sie unter Kontrollverlust leiden. Echte Deutsche Schäferhunde, die immer mit dem Menschen kooperieren wollen, neigen beispielsweise dazu, sich nicht gut in die Gruppe einzufügen, ihre Pfleger zu vereinnahmen und gegen die anderen Hunde in der Gruppe zu verteidigen. Und nicht zu vergessen: man muss sie oft vor sich selbst schützen (lacht).
Nora, Du hast die Fotos für das Buch gemacht. Wie muss ich mir das vorstellen? Wie kriegt man so beeindruckende und präzise Fotos von Aggressionsverhalten hin?
Nora: Das hatte ich mir tatsächlich auch einfacher vorgestellt! Und zwar vor allem deshalb, weil in den meisten Fällen dann, wenn zwischen zwei Hunden Aggressionsverhalten passiert, es a) nicht geplant ist oder b) die Halter unentspannt werden. Und das ja auch nicht ohne Grund. Aber man kann halt nur einen gewissen Teil der Motivationen auch tatsächlich nachstellen. Ressourcenaggression ist fast noch das einfachste, weil man den Hund immer sichern kann. Bei anderen Sachen wird es dann schon schwieriger. Das wäre mir in der Form auch nicht möglich gewesen ohne Franzi Ferenz, Ute Heberer und einige mutige Hundehalter, die mit dem Verhalten ihres Hundes im Reinen sind und damit umgehen können.
„Es gibt Sachen, die wollte oder konnte ich nicht fotografieren – zum Beispiel den Ernstkampf, wo es um Leben und Tod geht. Das fotografiert man einfach nicht mehr, das provoziert man nicht mal.“
Es gibt aber auch Sachen, die wollte oder konnte ich nicht fotografieren – zum Beispiel den Ernstkampf, wo es um Leben und Tod geht. Das fotografiert man einfach nicht mehr, das provoziert man nicht mal. Auch Angstaggression ist etwas, in das man den Hund nicht einfach nur für ein Foto drängt. Da waren meine Grenzen. Es gab aber auch Situationen, die hätte ich gerne fotografiert, habe aber keinen Halter gefunden, der das mit mir durchgemacht hätte. Ich hätte z.B. total gerne eine Form der erlernten Aggression gehabt, zum Beispiel beim Tierarzt. Ich hatte schon einen Tierarzt gefunden, der mitgemacht hätte, und ich habe einen Aufruf gemacht, worauf sich jemand gemeldet hat. Die Frau ist dann aber wieder abgesprungen, und zwar, weil ihr klar wurde, dass ihr Hund in einem Buch zu sehen sein wird als ein Hund, der sich aggressiv gegenüber einem Menschen verhält. Und das konnte die Halterin nur schwer ertragen. Das konnte ich total gut nachvollziehen. Dafür haben wir ganz viele andere tolle Motive.
Was ist Euer Lieblingsteil oder Kapitel in dem Buch?
Ute: Das Geleitwort! (von Dorit Feddersen-Petersen, Anm. d. Red.)
Nora: Ganz klar die Fallbeispiele. Das sind ja Geschichten von Hunden, die mit der ein oder anderen Form von Aggression auffällig geworden sind und mit denen gearbeitet wurde. Ich finde, näher kann man dem Thema in so einer Form fast nicht kommen. Deshalb mag ich diesen Teil ganz besonders. Aber ehrlich gesagt gefällt mir auch der Teil über Maulkörbe total gut, weil der so ein Plädoyer für den Maulkorb ist.
„Es gibt immer noch so viele Menschen, die das Gefühl haben, dass ein Maulkorb etwas Schreckliches ist, obwohl es das einfach nicht ist.“
Es gibt immer noch so viele Menschen, die das Gefühl haben, dass ein Maulkorb etwas Schreckliches ist, obwohl es das einfach nicht ist. Ein Hund kann ganz wundervoll leben, obwohl er einen Teil seiner Zeit mit einem Maulkorb gesichert sein muss. Und ein Maulkorb gibt einem so viel Freiheit, einen Hund mit dem zu akzeptieren, was er sagen will, und mit ihm darüber zu diskutieren, ob das immer die richtige Aussage ist. Der Maulkorb ist der Freiheitskämpfer des aggressiven Hundes!
Ihr habt ein sehr eindrückliches Coverbild gewählt. Dazu gab es hier und da schon Diskussionen, dass z.B. der Maulkorb nicht richtig passe. Warum habt ihr euch für dieses Bild entschieden?
Nora: Never judge a book by its cover! (Englisch für „Man soll ein Buch niemals nach seinem Deckel beurteilen“, Anm. d. Red.). Dieses Coverbild hat Armin Hauke gemacht, der Maulkorb wurde von Chic & Scharf zur Verfügung gestellt. Und ich kann mir für dieses Buch kein besseres Coverbild vorstellen: Der schwarze Hund mit dem schwarzen Maulkorb vor schwarzem Grund steht für genau die Stigmatisierung, die das Verhalten erfährt, und die vielen Vorurteile, die damit verbunden sind. Wenn die Leute darüber diskutieren, ob es denn wirklich ein schwarzer Hund sein musste und ob der Maulkorb so in Ordnung ist oder nicht – dann diskutieren sie über genau das, was dieses Buch diskutiert sehen will. Das soll uns mehr als recht sein!
Ihr habt mit Dr. Dorit Feddersen-Petersen eine Koryphäe als wissenschaftliches Geleit gewinnen können. Stand sie auch für die inhaltliche Arbeit beratend zur Seite?
Nora: Dorit hat im Themengebiet Aggressionsverhalten vermutlich so viel Erfahrung wie sonst kaum jemand im deutschen Raum. Das fängt bei ihrer Forschung zum Verhalten des Hundes an, geht über ihre Gutachtertätigkeit zu gefährlichen Hunden weiter und endet – eigentlich überhaupt nicht. Der Kontakt zu Dorit war für uns deshalb Gold wert. Wir haben einzelne Themenkomplexe mit Dorit abgeglichen, nach ihren Erfahrungen gefragt und diese in die Texte mit einfließen lassen. Sie hat auch alle Bilder begutachtet und hier und da noch das ein oder andere ergänzt. Was aber eigentlich viel wichtiger war, war ihre unglaubliche Begeisterung für das Thema und die AutorInnenkonstellation.
Was ist für Euch am allerwichtigsten in der Arbeit mit aggressiven Hunden? Was müssen alle TrainerInnen, die mit aggressiven Hunden arbeiten wollen, Eurer Meinung nach dafür können und warum?
Ute: Das Verständnis für den Hund und ihre Art der Kommunikation. Ein Hund, der sich aggressiv verhält, hat oft keine anderen Lösungswege. Solche Typen sind genau so arm dran wie die ängstlichen Hunde, für die jeder Verständnis aufbringt. Viele aggressiven Hunde sind einfach völlig unverstanden und reagieren in ihrer Verzweiflung mit Aggression, um etwas deutlich zu machen, was bis dahin nicht wahrgenommen oder ignoriert wurde.
„Aggressionsverhalten ist nichts für die Wagemutigen und Profilneurotischen, nichts für die Piraten und die Alles-Locker-Nehmer.“
Nora: Ja. Verständnis. Verständnis und Vernunft. Aggressionsverhalten ist nichts für die Wagemutigen und Profilneurotischen, nichts für die Piraten und die Alles-Locker-Nehmer. Je nachdem, von welchem Hund wir reden, ist Aggressionsverhalten so gefährlich, dass man schwere Verletzungen davontragen kann. Da muss man mit großer Vernunft herangehen, sich abgrenzen können und wissen: Das einzige, was hilft, ist, den richtigen Weg zusammen mit dem Halter zu finden, der diesen Hund wieder mit nach Hause nimmt.
Ute: Was außerdem noch wichtig ist, ist die eigene Einstellung zur Aggression. Es gibt halt leider diese Selbstdarsteller, die die Aggression des Hundes nutzen, um sich zu produzieren. Wenn ich mit Aggression arbeite, muss ich aber ganz genau wissen: Was macht die Aggression mit mir, was triggert mich da an, wie gehe ich damit um? Damit man wirklich die richtige Herangehensweise wählt. Wenn ich selbst in irgendeiner Form ein Problem damit habe, kann ich niemandem helfen. Als zweites muss ich erkennen können, was die Aggression mit dem Besitzer macht. Denn es kann ja sein, dass das Aggressionsverhalten eigentlich als ganz toll empfunden wird, man das aber nicht zugeben will. Zum Beispiel, wenn der Hund seine Halterin beschützt. Wenn man das nicht erkennt, rennt man gegen Wände. Das müssen wir als Trainer erkennen, darauf hinweisen und dann schauen, wie man weiterkommt und welchen Ansatz man finden kann. Zuletzt bleibt der Hund: Warum hat der sich für eine aggressive Kommunikation entschieden und nicht zum Beispiel für nachgiebiges Verhalten? Wie tickt der und was sind seine Motive? Wir haben also drei Teile: Trainer, Hund und Halter. Das ist unglaublich spannend, solche Strukturen zu sehen und einen Weg da raus zu finden. Ich liebe das, weil es nicht nur langweiliges Abspulen von Methoden ist, sondern richtige Detektivarbeit.