Warum sind Wölfe keine guten Hunde?
von Marie Nitzschner
Wölfe und Hunde haben einen gemeinsamen Vorfahren. Das gilt wissenschaftlich als gesichert. Aus evolutionärer Sicht ging die getrennte Entwicklung auch erst vor recht kurzer Zeit los. Nichtsdestotrotz zeigen sich gravierende Unterschiede zum Beispiel im Fortpflanzungsverhalten sowie Fressverhalten. Allerdings: es haben sich nicht nur ökologische Anpassungen während der Domestikation ergeben, sondern es gab auch morphologische Änderungen. Die entscheidende Veränderung ist aber natürlich die Zahmheit gegenüber dem Menschen.
Aber bevor ich genauer darauf eingehe, möchte ich einen kleinen Ausflug machen, was Domestikation eigentlich bedeutet bzw. in welchen Merkmalen sie sich äußert. Eine der gängigsten Definitionen lautet: Domestikation ist ein evolutionärer Prozess, in dem sich eine Tierpopulation durch genetische Veränderungen an Menschen anpasst (Price 1984).
Die Domestizierung der Silberfüchse
Der Domestikationsprozess ist selbstverständlich nicht nur bei Hunden aufgetreten, sondern auch bei sämtlichen anderen Tieren, die wir seit Jahrtausenden als Haus- bzw. Nutztiere halten. Um diesen Prozess und die damit verbundenen Veränderungen nachvollziehen zu können, startete Dimitri Belyaev in den 1950er Jahren ein spannendes Experiment: Auf einer ehemaligen Pelztierfarm in Sibirien begann er, die zahmeren der vorhandenen Silberfüchse miteinander zu verpaaren. Innerhalb von fünf Generationen machten sich bereits massive Verhaltensveränderungen bemerkbar. Die so selektierten Füchse zeigten ein völlig anderes Verhalten gegenüber Menschen: Anstatt eine Angstreaktion bzw. Meideverhalten zu zeigen, wie es für den Wildtyp üblich ist, ließen diese Tiere sich problemlos vom Menschen anfassen. Weitere Generationen später begannen sie sogar aktiv den Kontakt mit Menschen zu suchen, ähnlich wie es Hunde tun.
Interessanterweise haben sich neben den Verhaltensänderungen auch Änderungen im Aussehen ergeben. So bekamen einzelne Individuen in der selektierten Population weiße Flecken im Fell, statt Stehohren bekamen sie Schlappohren und einige der Tiere bildeten eine Ringelrute aus. Und das, obwohl die Wissenschaftler die Tiere ausschließlich auf die verringerte Angstreaktion selektiert hatten. Diese veränderten Merkmale im Vergleich zum Wildtyp zeigen sich auch beim Hund sowie den meisten anderen domestizierten Tierarten.
Einfluss der Neuralleiste
Eine neuere Theorie geht davon aus, dass diese Veränderungen auf einer Modifikation der sogenannten Neuralleiste basieren (Wilkins, Wrangham & Fitch 2014). Diese Struktur entwickelt sich zu Beginn der Embryonalentwicklung. Ausgehend von ihr bilden sich Zellen, die sich in verschiedenen Körperregionen zu unterschiedlichen Körperzellen bzw. -organen entwickeln. Zum Beispiel bilden sie die sogenannten Melanoblasten, die für die Färbung des Fells verantwortlich sind. Sämtliche äußerliche Änderungen, die während des Domestikationsprozesses entstehen, können auf eine veränderte Aktivität der Neuralleiste zurückgeführt werden.
Aber der wohl wichtigste Einfluss betrifft das sympathische Nervensystem und die Nebennieren. Beide Strukturen sind als Bestandteile der Stressachse an der Ausprägung der Furchtreaktion beteiligt. In dem Silberfuchs-Experiment stellte sich heraus, dass die unselektierten Füchse ab der sechsten Woche eine deutliche Furchtreaktion vor der Annäherung des Menschen sowie einen enorm erhöhten Cortisolspiegel zeigten. Diese Ergebnisse resultieren aus der vollendeten Reifung der Stressachse – es ist also eine vollständige Furchtreaktion möglich. Die auf Zahmheit selektierten Füchse zeigen weder das Auftreten der Furchtreaktion noch die Erhöhung des Cortisolspiegels. Die Autoren vermuten, dass durch die Zuchtauswahl die Reifung der besagten Stressachse verzögert und somit das „Sozialisationsfenster“ verlängert wird.
Die Leichtigkeit, mit der Hundewelpen in der Lage sind, soziale Bindungen zu Menschen (also zu artfremden Individuen) einzugehen, ist ein Produkt dieses Prozesses. Die Ergebnisse von experimentellen Studien legen nahe, dass Wölfe ab spätestens der zweiten bis dritten Woche handaufgezogen werden müssen, um eine zuverlässige positive soziale Beziehung zum Menschen aufzubauen. Ähnlich wie bei den Füchsen ist ihre Furchtreaktion ab der sechsten Woche so groß, dass sie eine Sozialisation mit naiven Tieren (die also Menschen noch nicht kennengelernt haben) unmöglich macht. Im Gegensatz dazu bilden Hundewelpen bereitwillig solche Beziehungen, sobald sie vor der siebten bis achten Woche ein bisschen Kontakt zu Menschen haben. Außerdem bleibt deren „Sozialisationsfenster“ bis zur 12.-14. Woche oder sogar noch länger offen. Die Vermutung, dass es eine Korrelation zwischen der Furchtreaktion und der Cortisolkonzentration im Speichel der Welpen gibt, konnte eine weitere aktuelle Studie zeigen (Morrow et al. 2015). Auch zeigten sich deutliche Rasseunterschiede im Entwicklungszeitpunkt der Furchtreaktion.
Zusätzlich zur Reduktion des Furchtverhaltens bzw. der Meidereaktion, scheint die Domestikation auch einen starken Einfluss auf das prosoziale Verhalten gegenüber dem Menschen zu haben. Hunde haben im Vergleich zum Wolf ein verstärktes Bedürfnis, sich dem Menschen zu nähern, mit ihm Kontakt herzustellen und ihn als Sozialpartner zu akzeptieren. Möglicherweise stehen diese Veränderungen im Zusammenhang mit einer Veränderung des Oxytocin-Rezeptor-Gens (OXTR). Es ist bekannt, dass Varianten dieses Gens beim Menschen soziale Verhaltensweisen wie Bindungsverhalten und Empathie beeinflussen. Allerdings bleibt dieser Zusammenhang zum jetzigen Zeitpunkt nur eine Vermutung, da entsprechende Vergleichsstudien mit Wölfen fehlen.
Und dessen nicht genug, zeigen die Ergebnisse einer brandaktuellen Studie, dass Hunde drei Genvarianten besitzen, die auch beim Menschen zu sehr ausgeprägtem Sozialverhalten führen (vonHoldt et al. 2017). Möglicherweise sind auch diese Modifikationen für die Entstehung der domestikationsbedingten Verhaltensveränderungen gegenüber dem Menschen verantwortlich.
Hunde können sich auf uns einlassen
Dieser Prozess führte dazu, dass sich Hunde auf uns einlassen können. Neben der Zahmheit und dem veränderten Bindungsverhalten ergaben sich weitere Verhaltensanpassungen. Zum Beispiel wenden sich Hunde in unklaren Situationen deutlich früher hilfesuchend an ihren Menschen, während Wölfe eher versuchen, eine Problemaufgabe selbstständig zu lösen (Marshall-Pescini et al. 2017). Außerdem sind Hunde deutlich besser darin, mit uns zu kommunizieren und kooperieren (Kaminski & Nitzschner 2013).
Sie sind nicht bunt und können keine Schlappohren haben – aber vor allem wird eine „gesunde“ Neuralleiste immer dazu führen, dass Wölfe keine Haustiere werden. Zwar können sie durch intensive Sozialisation eine positive Beziehung mit „ihren“ Menschen aufbauen und auch an den Umgang mit fremden Menschen gewöhnt werden (Ujfalussy et al. 2017), dennoch fehlen ihnen entscheidende Eigenschaften für das enge Zusammenleben mit dem Menschen: die intensive zwischenartliche Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit und die Bereitschaft, uns als Bindungspartner zu akzeptieren. Sie bleiben einfach unabhängige Tiere.
Literaturangaben:
Morrow, M., Ottobre, J., Ottobre, A., Neville, P., St-Pierre, N., Dreschel, N., & Pate, J. L. (2015). Breed-dependent differences in the onset of fear-related avoidance behavior in puppies. Journal of Veterinary Behavior: Clinical Applications and Research, 10(4), 286-294.
Price, E. O. (1984). Behavioral aspects of animal domestication. The quarterly review of biology, 59(1), 1-32.
Bildquellen:
„silver fox.“ von jess/Flickr unter CC BY 2.0
„Coastal Wolf+Bear“ von Katmai National Park and Preserve/Flickr unter Public Domain Mark 1.0