Über Selbstüberschätzung im Hundetraining

von Jennifer Rotter

Warum Lernen aus Deiner Wahrnehmung ein Arschloch machen kann, wie Du Dich am besten davor schützt und was das alles auch noch mit Bergen zu tun hat.

Menschen und ihre Fähigkeiten sind ziemlich beeindruckend. Wir sind erstaunliche Lernwesen. Nein, das ist kein Tippfehler: LERNwesen. Denn Tag für Tag verbessern wir in unglaublich vielen Dingen unsere Fähigkeiten, wir erschließen uns ständig neue Horizonte und eignen uns bis zum Ende unseres Lebens immer neue Kompetenzen an.

Kurzum: Leben ist lernen. Lernen kann begeistern, motivieren, die Welt ein bisschen größer und zugänglicher machen. Und Lernen kann aus unserer Wahrnehmung ein Arschloch machen.

Doch, echt. Das ist ernst gemeint. Es kann passieren, dass unsere Wahrnehmung uns ziemlich fies hinter’s Licht führt. Die gute Nachricht: Wir können uns davor schützen. Die schlechte: Das bedeutet viel Arbeit – an uns selbst. Und das alles ist eigentlich ganz genau wie Bergsteigen. Aber von vorne:

Wenn wir uns dafür entscheiden, etwas zu lernen, tun wir das aus den verschiedensten Gründen: Wir glauben, etwas noch nicht genug zu verstehen, zu wissen oder zu können. Wir interessieren uns für etwas, und zwar genug, um uns richtig reinzuknien. Vielleicht sind wir auch dazu gezwungen, weil wir ein Zertifikat brauchen, um eine Arbeit aufnehmen oder eine neue Position annehmen zu können.

Es gibt einfach unheimlich viele Anlässe, sich in formales Lernen zu stürzen. Du hast Dich zum Beispiel für eine Aus- oder Weiterbildung zum/zur HundetrainerIn entschieden, weil Du im Umgang mit Deinem eigenen oder anderen Hunden immer wieder an die selben Grenzen gestoßen bist – und gleichzeitig beobachten konntest, dass andere eine Lösung für diese Probleme zu haben schienen. Oder Dir ist aufgefallen, dass Du ständig an Kunden gerätst, denen Du nicht gewachsen zu sein scheinst. Das frustriert und produziert den Wunsch, mehr zu wissen, um besser klarzukommen. Oder Dich fasziniert von jeher, wie viel man über die Körpersprache von Hunden lernen kann. Oder oder oder…

Deiner Lernmotivation liegt in jedem Fall der Wunsch nach Verbesserung zu Grunde.

Die Einsicht Deiner eigenen Fehlbarkeit ist an diesem Punkt vermutlich groß, und Dir ist mehr als klar, dass Du noch allerhand lernen musst (oder kannst, je nach Sichtweise). Wahrscheinlich ist es auch um Deine Motivation sehr gut bestellt – Du freust Dich vielleicht auf den Input und die neuen Techniken, die Du lernen wirst, und hast schon richtig Lust darauf, Dich in den Stoff zu vertiefen.

Am Anfang der Tour hast Du Kraft und Energie, Du hast Dich mit dem Streckenplan vertraut gemacht und freust Dich auf das Gefühl, das Dich erwartet, wenn Du erfolgreich den Gipfel erklommen hast. Du weißt, dass es an der ein oder anderen Stelle knifflig werden könnte, aber der Bergführer hat ja alles erklärt. Du bist also zuversichtlich. Diesen Berg wirst Du bezwingen!

Du lernst begierig. Denn Du bist fest entschlossen, Dich zu verbessern, das neue Wissen ist super spannend und das Beste: Die ersten Schritte sind gar nicht so schwer! Die Techniken, die Dir gezeigt werden, hast Du schnell drauf, die Theorie scheint so simpel und logisch, dass Du sie ohne viel Aufwand verstehst. Wann immer Du das ein oder andere bei Deinen Hunden oder Kunden ausprobierst, erzielst Du schnell erstaunliche Erfolge.

Vor allem aber fällt Dir plötzlich auf, wie viele Fehler die anderen eigentlich machen. Der Nachbar mit dem ganz klar territorial aggressiven Hovawart tätschelt seinem Hund beruhigend den Kopf, während er auf den zähnefletschend in der Leine hängenden Rüden einmurmelt. Die Frau auf der Hundewiese wirft den Ball mitten in die Meute und damit ihren in Angst quiekenden kleinen Terrier den Großen zum Fraß vor, während sie sich über das gemeinsame Spiel freut. Und hat diese selbstherrliche Tante da in der Facebookgruppe gerade echt Erlernte Hilflosigkeit völlig falsch zitiert?

Die Welt scheint plötzlich nur noch aus Idioten zu bestehen. 

Sei ehrlich: Du kennst dieses Gefühl. Je nachdem, wie Du gestrickt bist, gibst Du ihm mehr oder weniger freiwillig nach. Aber wir alle neigen dazu, und das aus mehreren Gründen:

Forscher haben sich angeschaut, wie Menschen ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen. Das ernüchternde Ergebnis: Wir alle glauben gern, dass wir überdurchschnittlich begabt sind. Wir glauben, dass wir sicherer Auto fahren als andere. Wir sind überzeugt, taktisch klüger zu sein als der Trainer unseres Lieblingsfußballvereins. Wir glauben, unsere Meinung auf Facebook ist grundsätzlich wahrer oder richtiger als die der anderen. Wir sind nach dem ersten problemlosen Anstieg mit ein paar leichten Kletterstellen überzeugt, dass Bergziegenblut in unseren Adern fließt. Wir halten uns für AusnahmetrainerInnen, weil die „Schau-Mich-An“-Übung beim Bordercollie aus der Nachbarschaft super funktioniert*.

Dieser Effekt hat sogar einen Namen, der Dunning-Kruger-Effekt: Je weniger kompetent Menschen in einer Sache sind, desto eher überschätzen sie ihre Fähigkeiten darin. Verstärkt wird dieser Effekt noch dadurch, dass wir zur selektiven Wahrnehmung neigen: Auf der Hundewiese sind vielleicht zehn andere Hundehalter, die ihre Tiere super beobachten und die Gruppendynamik toll im Blick behalten. Die nehmen wir aber gar nicht wahr, wenn wir der Meinung sind, es eh besser zu wissen als „normale“ Hundehalter (denn was haben wir nicht alles schon gelernt – im Gegensatz zu denen). Das ist der so genannte Confirmation Bias (engl., Bestätigungsfehler): Wir tendieren dazu, nur das wahrzunehmen, was unsere eigenen Überzeugungen und Meinungen bestätigt.

Außerdem ist Lernen kein linearer Prozess. Es verläuft in Etappen. Wie mancher Anstieg auf den Berg. Nach einem ersten steilen, aber gut zu meisternden Wegstück folgt eine Hochebene. Du glaubst, nicht mehr an Höhe gewinnen zu können, denn einen Zustieg nach weiter oben kannst Du nirgends erkennen. Du scheinst Dich nicht weiter zu verbessern oder mehr zu lernen. Das kann sich anfühlen, als ob man „zu Ende“ gelernt hätte: als ob das Ende des Weges erreicht wäre. Als ob man schon alles wüsste.

So sieht es also aus: Wir haben etwas Neues dazugelernt und erleben uns plötzlich als sehr viel kompetenter als bisher. Und mit einem Mal fällt uns auf, wie viele Fehler andere machen. Gleichzeitig wissen wir nicht unbedingt, wie viel wir noch gar nicht wissen und noch lernen könnten. Das kann im Lernprozess ein sehr gefährlicher Zeitpunkt sein. Wenn wir uns sehr kompetent finden, nehmen wir neues Wissen nicht mehr so bereitwillig auf. Dadurch verharren wir schlimmstenfalls, ohne es zu merken, auf einem Niveau, das nur vermeintlich hoch ist und noch viel Luft nach oben böte.

Der neue Hund im Training will partout das Leinenzerren nicht einstellen? Dann trainiert Frauchen halt nicht richtig. Der eigene Hund knallt regelmäßig in andere Rüden? Wenn deren Halter auch ihre provozierenden Hunde nicht im Blick behalten! Es kommen immer weniger Kunden zu meinen Gruppenangeboten? Die wissen nicht, was gut für ihre Hunde ist. In Facebookdiskussionen stellen andere meine Argumente in Frage? Die sind nicht in der Lage, mich zu verstehen.

Die Aufzählung ist – zugegeben – plakativ. Die Beispiele aber sind nicht fiktiv, sondern beruhen auf so getätigten Aussagen. Sie zeigen, wo die Gefahren von Selbstüberschätzung liegen: Wenn wir unser Können überschätzen, haben wir in der Regel keinen Blick mehr für die eigenen Fehler und Wissenslücken, gehen unnötige Risiken ein und lernen nicht mehr dazu. Das ist nicht nur schade, weil wir damit unserer Weiterentwicklung selbst im Wege stehen. Es kann auch ein Problem im Umgang mit Menschen und Hunden werden – oder sogar eine Gefahr für mich und andere. Außerdem sind wir wahrscheinlich ziemlich unsympathische Zeitgenossen. 😉

Was kann man also tun, um sich nicht von der eigenen Wahrnehmung in die Falle locken zu lassen? Zunächst natürlich: Weiterlernen! Denn je tiefer man in eine Materie eintaucht, desto präziser und differenzierter wird das eigene Urteilen, Denken und Handeln werden.

Vor allem aber: Hol’ Dir ehrliches Feedback. Und nimm es Dir zu Herzen!

Das Feedback kannst Du Dir selbst geben, in Form von Selbstreflexion: Was habe ich heute richtig gut gemacht? Wo könnte ich etwas besser machen? Wo hat es geknirscht und was habe ich vielleicht dazu beigetragen? Hätte man an dem Problem auf eine andere Art arbeiten können und wenn ja, welche wäre das vielleicht? Diskutiere ich gerade noch mit der Person, weil es fachlich wichtig ist oder will ich einfach Recht behalten?

Das Feedback kannst Du Dir aber auch von anderen holen. Gibt es KollegInnen oder andere Lernende, mit denen Du Dich zusammentun könntest? Kannst Du Dich vielleicht regelmäßig mit ihnen treffen, damit Ihr Eure Bewegungsabläufe coachen und knifflige Trainingsfragen diskutieren könnt? Setze Dich dem Widerspruch aus, konfrontiere Dich mit anderen Menschen und ihren Meinungen und denke sie durch: könnte etwas dran sein? Wie gut sind die Argumente?

Das Feedback kannst Du Dir schließlich auch von Fachleuten holen: Wer beständig weiter mit ausgewiesenen ExpertInnen lernt, dem werden die eigenen Grenzen klarer – und was es braucht, um sie zu überwinden.

Das fühlt sich nicht immer so gut an, wie (vermeintlich) Recht zu haben oder es besser zu wissen. Sich eingestehen zu müssen, dass man etwas gerade nicht weiß oder etwas falsch gemacht hat, ist natürlich erstmal unangenehm. Sich zu verlaufen und umkehren zu müssen, kostet Zeit und nervt. Aber jeder Fehler, den Du machst, jede Diskussion, bei der Deine Argumente die schwächeren sind, jede Trainingseinheit, die nicht funktioniert hat, ist ein (Lern-)Geschenk. Oft sind die erstmal doof und stinken, im Nachhinein betrachtet aber sind sie wertvoll für die eigene Entwicklung und Kompetenz.

Selbstüberschätzung, selektive Wahrnehmung und mangelnde Reflexion beim Lernen können also Deine Wahrnehmung zu einem Riesenarschloch machen, das Dich behindert oder schlimmstenfalls gefährdet. Deine Geheimwaffe: Feedback, Feedback, Feedback. Suche Lerngeschenke und nutze sie für Dich! Denn schon der ausgewiesene Experte Gandalf der Graue wusste:

„(…)Hobbits really are amazing creatures, as I have said before. You can learn all that there is to know about their ways in a month, and yet after a hundred years they can still surprise you at a pinch.”

„(…)Hobbits sind doch wirklich erstaunliche Geschöpfe! In einem Monat kann man alles Wissenswerte über sie lernen und doch können sie einen nach 100 Jahren noch überraschen!“

Und was für Hobbits gilt, gilt erst recht für Mensch und Hund. Also: Sei kein schlechter Trainer, sei keine nur halbwegs gute Trainerin. Lerne weiter J. Du wirst immer irgendwann merken, dass am Ende des Plateaus die nächste Steilwand wartet. Um die zu überwinden, musst Du vielleicht schon einige kniffligere Stellen meistern, die Dir ganz schön was abverlangen. Aber wo Du am Anfang nur einen Berg gesehen hast, auf den man hinauflaufen kann, siehst Du jetzt die Rinnen und Grate, Schuttfelder und Schneefelder, Querungen und Überhänge. Du wirst immer besser einschätzen können, was es braucht, Du wirst stärker, erfahrener und geschickter: Du wirst ein weiteres Plateau erklimmen. Und Dich schon riesig auf den nächsten Anstieg freuen.


* Einen kleinen Trost gibt es aber schon: Wir neigen manchmal auch dazu, unsere eigene Leistung zu unterschätzen. Nämlich dann, wenn wir uns mit wirklich kniffligen Aufgaben herumschlagen müssen. Dann halten wir uns gern für weniger kompetent, als wir es eigentlich sind. Das heißt: Wenn Du Dir das nächste Mal an einer Lernaufgabe partout die Zähne ausbeißt und Dir völlig inkompetent vorkommst – dann meisterst Du mit großer Wahrscheinlichkeit gerade etwas richtig Schwieriges! Statt Dich also schlecht zu fühlen, solltest Du: dranbleiben – und stolz auf Deine Leistung sein.

Literatur:

Kruger, Justin/ Dunning, David: Unskilled and Unaware of It: How Difficulties in Recognizing One’s Own Incompetence Lead To Inflated Self-Assessments. Journal of Personality and Social Psychology, 1999, Vol. 77, Nr. 6, S. 1121 – 1134 (Link zum pdf).

Moore, Don A./ Small, Deborah A.: Error and Bias in Comparative Judgment: On Being Both Better and Worse Than We Think We Are. Journal of Personality and Social Psychology, 2007, Vol. 92, Nr. 6, S. 972 – 989 (Link zum pdf).

Zell, Ethan/ Krizan, Zlatan: Do People Have Insight Into Their Abilities? A Metasynthesis. Perspectives on Psychological Science, 2014, Vol. 9, Nr. 2, S. 111-125 (Link).

und natürlich

Tolkien, J.R.R.: The Lord of the Rings. 1: The Fellowship of the Rings. Harper Collins Publishers 1991.