Da kann man nichts machen, die Rasse ist halt so?

Ein Hunde einer Molosser-Hunderasse, vielleicht von eder Rasse Amstaff oder Pitbull ein Mix. Er guckt etwas zurückhaldend und vorsichtig züngelnd nach oben rechts. Er ist grau mit weißem Latz.

Die Persönlichkeit eines Hundes hängt viel weniger von seiner Rasse ab, als wir im Alltag vermuten. Das sollte in Training und behördlichem Umgang endlich berücksichtigt werden. Ein Plädoyer für einen individuelle(re)n Blick auf Hunde.

18. Oktober 2025

Die tatsächliche oder bei Mischlingen manchmal auch nur vermutete Rassezugehörigkeit von Hunden kann weitreichende Konsequenzen für ihr Leben haben – zum Beispiel, wie viele Freiheiten sie genießen dürfen. Oder auch, wie Menschen ganz grundsätzlich mit ihnen umgehen und trainieren:

  • „Border Collies brauchen einfach super viel geistige Auslastung“
  • „Ein Shiba Inu kann nicht wirklich von der Leine gelassen werden“
  • „Rottweiler haben hier grundsätzlich Maulkorbpflicht“

Halter*innen, Behörden, aber auch Trainer*innen clustern Hundeverhalten und den eigenen Umgang mit Hunden oft stark nach der Rasse, zu der ein Hund gehört (oder phänotypisch zu gehören scheint). Dabei gibt der Stand der Forschung diese Selbstverständlichkeit nicht her: Die Persönlichkeit, und damit das erwartbare Verhalten eines Hundes, hängen offenbar viel weniger von der Rasse ab als lange vermutet. Individuelle Faktoren haben wohl einen deutlich größeren Einfluss darauf, wie ein Hund sich entwickelt.

Die Datenlage: weniger eindeutig als gedacht

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit von Hunden hat in den letzten Jahren bemerkenswerte Erkenntnisse hervorgebracht. Eine der für das Thema bedeutsamsten neueren Studien kam zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Rasse eines Hundes lediglich 9% der Verhaltensunterschiede zwischen Individuen erkläre. Von der Rasse determiniert war demnach vor allem die Skala zwischen „Trainierbarkeit“ und „Unabhängigkeit“. Eine weitere Studie mit über 13.000 Hunden stützt diese Differenzierung: Bei allen gemessenen Merkmalen machten die Unterschiede innerhalb einer Rasse mehr als 80 Prozent der gesamten Variation aus: Zwar wurden durchaus Unterschiede festgestellt – zB eine höhere Korrelation zwischen Malinois und dem Merkmal „Verspieltheit“ als bei anderen Rassen. Aber: Innerhalb der jeweiligen Rassen gab es vor allem wegen unterschiedliche Zuchtlinien massive Variabilität, weswegen statistische Rasseunterschiede wenig aussagekräftig sind. Das bedeutet konkret: Zwei Hunde derselben Rasse können sich charakterlich stärker unterscheiden als Hunde verschiedener Rassen.

Dieser Satz verdient Wiederholung: Zwei Hunde derselben Rasse können sich charakterlich stärker unterscheiden als Hunde verschiedener Rassen.

Erkenntnisse mit praktischen Folgen

Die Schieflage zwischen Evidenz und Alltagswissen manifestiert sich ganz konkret mit durchaus negativen Folgen für Hunde und ihre Biografien: Dr. Nora Brede hat schon vor Jahren dargelegt, warum die phänotypische Einordnung von Mischlingshunden zu bestimmten Rassen untragbar ist. Die Genetik eines Hundes zeigt sich mitnichten zuverlässig in seinem Aussehen. Auch dazu gibt es eine Studie: Fast 6.000 Fachleute – darunter Züchter*innen, Trainer*innen und Veterinärmediziner*innen – sollten Hunderassen anhand von Fotos visuell bestimmen. Die statistische Auswertung war ernüchternd: Die Trefferquote lag insgesamt nicht über dem Zufall. Diese Erkenntnis ist besonders brisant, da nahezu alle rassespezifischen Gesetze auf solchen visuellen Einschätzungen basieren.

Und die Forschung hat inzwischen ein weiteres Problem an diesem Vorgehen identifiziert: Wahrnehmungsverzerrung. Unsere unbewussten Denkmuster, Erwartungen oder Stereotype beeinflussen unter Umständen unsere Wahrnehmung von Informationen – und führen so zu falschen Interpretationen.

Die Macht von Stereotypen…

Ein aufschlussreiches Beispiel für die Macht von Erwartungen liefert eine US-amerikanische Tierheim-Studie. Forscher*innen präsentierten Testpersonen Fotos von optisch sehr ähnlichen Hunden – die einen als „Pitbulls“ bezeichnet, die anderen mit neutraleren Rassebezeichnungen. Die Ergebnisse waren eindeutig: Ohne Rasseangabe bewerteten die Teilnehmenden alle Hunde als gleichermaßen adoptionswürdig. Mit Rasselabels jedoch blieben als „Pitbull“ bezeichnete Hunde durchschnittlich 35 Tage im Tierheim, während ihre Lookalikes nur 6 Tage benötigten. Als das untersuchte Tierheim konsequenterweise alle Rassebezeichnungen von den Vermittlungsunterlagen entfernte, stieg die Adoptionsrate der betroffenen Hunde von 52 auf 64 Prozent – ein Effekt, der auch zehn Jahre später anhält.

…und die Willkür gesellschaftlicher Wertungen

Besonders aufschlussreich ist auch der Vergleich von Rassen mit ähnlichen Aggressionsdaten, die jedoch völlig unterschiedlich bewertet werden. Laut einer Studie zeigten beispielsweise 22% der untersuchten Pitbulls hohe Aggressionswerte gegen Artgenossen. Aber erstens bedeutet das 78% Pitbulls, die das Verhalten nicht zeigten – und zweitens zeigten auch etwa 21% der untersuchten Cattle Dogs ausgeprägtes Aggressionsverhalten gegen andere Hunde. Ihr Ruf unterscheidet sich dennoch deutlich von dem des Kampfhundes Pitbull. Die Diskrepanz zwischen Datenlage und gesellschaftlicher Wahrnehmung zeigt deutlich, wie stereotypisiert unsere Bewertung von Hunderassen ist. Übrigens haben Pitbulls in mehreren Bundesländern Auflagen. Cattle Dogs? Fehlanzeige – obwohl sie in derselben Studie bei der gegen Menschen (!) gerichteten Aggression sogar leicht höhere Werte erzielten als Pitbulls.

Faktoren mit größerem Einfluss als die Rasse

Tatsächlich spielen andere Aspekte als die Rasse(bestandteile) möglicherweise eine viel größere Rolle für die Entwicklung eines Hundes: So gibt es statistisch signifikante Unterschiede im Verhalten von Show- und Arbeitslinien derselben Rasse. Gezeigt wurde das zum Beispiel anhand von Aggressionsverhalten sowohl gegen Hunde als auch gegen Menschen: überraschenderweise war dieses bei Showlinien ausgeprägter als bei Vertreter*innen der Arbeitslinien. Und bei einer umfassenden Labrador-Studie erwies sich die Zuchtlinie als stärkster Einflussfaktor von zwölf untersuchten Variablen – bedeutsamer als Trainingsstand, Haltungsbedingungen, Geschlecht oder Kastrationsstatus.

Eine andere Studie mit Vizslas und Deutschen Schäferhunden wiederum zeigte, dass die Haltungsbedingungen eines Hundes stärker sein Verhalten beeinflussen als seine Rassezugehörigkeit: Hunde in Außenhaltung verhielten sich aggressiver und waren weniger gut trainierbar als Hunde, die im Haus gehalten wurden – unabhängig von ihrer Rassezugehörigkeit.

Individualität vor Rassezugehörigkeit

Solche Forschungsergebnisse haben direkte Auswirkungen auf die praktische Arbeit mit Hunden – oder sollten es zumindest haben. Sie zeigen zum Beispiel, dass Rasselisten oder mit Rassezugehörigkeiten begründete Auflagen nicht sinnvoll sind und stattdessen Halter*innenschulungen viel mehr Potenzial haben dürften, Verletzungen und Todesfälle zu verhindern. Es ist außerdem davon auszugehen, dass die angemessene frühe Sozialisierung von Hunden aller Rassen zusätzlich an Bedeutung gewinnen sollte, wenn Eigenschaften wie Ängstlichkeit oder Aggressivität eher von den gemachten Erfahrungen als von der Zugehörigkeit zu einer Rasse abhängen.

Was bedeutet das für Hundetraining?

Von solchen Forschungsergebnissen sind außerdem klare Handlungsempfehlungen für Trainer*innen abzuleiten: Während statistische Rasseunterschiede durchaus existieren, sind diese für die Vorhersage individuellen Verhaltens wenig aussagekräftig. Die enormen Unterschiede innerhalb von Rassen, kombiniert mit dem Einfluss von Zuchtlinien, Haltungsbedingungen und individuellen Erfahrungen, machen jeden Hund zu einem einzigartigen Individuum.

Die vermutete oder tatsächliche Zugehörigkeit eines Hundes zu einer Rasse darf deshalb niemals eine genaue, individuelle Anamnese ersetzen. Ja, Rasseeigenschaften können Verhalten von Hunden beeinflussen. Es ist damit zu rechnen, dass ein Treibhund genetisch fixiert anderes Verhalten zeigen dürfte als beispielsweise ein Rauhaardackel. Diese Hypothese muss aber immer genau das sein und bleiben: eine These, die mit jedem neuen Hund aufs Neue geprüft wird. Rassekenntnisse sollten als grober Anhaltspunkt genutzt werden, Trainer*innen aber offen für Überraschungen bleiben. Der als „schwierig“ geltende Hund einer bestimmten Rasse ist vielleicht eigentlich außerordentlich kooperativ, wenn man ihn mal so behandelt wie einen kooperativen Hund und nicht mehr wie den meinungsstarken, freiheitsliebenden Eigenbrötler, der er laut Rassebeschreibung eigentlich sein sollte.

Neue alte Prioritäten bei der Anamnese

Statt sich auf der Frage nach der Rasse „auszuruhen“, sollten weitere Faktoren abgeklärt werden – zum Beispiel folgende Fragen, die sowieso zum Handwerkszeug aller guten Trainer*innen gehören:

  • Aus welcher Zuchtlinie stammt der Hund?
  • Wie waren die Aufzuchtbedingungen?
  • Wie sind die aktuellen Haltungsbedingungen?

Umgang mit Erwartungen von Kund*innen

Die fixierten Vorstellungen darüber, wie eine Rasse so „tickt“, können gerade für unerfahrene Halter*innen oder solche mit sehr festen Glaubenssätzen über Hunderassen hemmend sein: „Ich habe schon seit 20 Jahren Chow Chows, die brauchen viele Freiheiten“. „Unser Züchter hat gesagt, Deutsch Drahthaar muss man härter anfassen“.

Solche Halter*innen sehen vielleicht gar nicht, dass das Verhalten ihres Hundes davon abweicht, was in der Rassebeschreibung nachzulesen ist oder vermeintliche Rasseexpert*innen behaupten (siehe Wahrnehmungsverzerrung!). In solchen Fällen ist die beraterische und didaktische Kompetenz der trainierenden Person gefragt, den Blick der Kundschaft zu erweitern und Perspektiven im Interesse des Hundes und der Erfolgsaussichten des Teams zu verändern.

Für alle Beteiligten gilt: Eine ausgewogene Herangehensweise, die sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch praktische Erfahrungen berücksichtigt, wird der Komplexität von Hundepersönlichkeiten vermutlich am ehesten gerecht. Denn letztendlich zählt nicht, was im Stammbaum steht, sondern wer vor uns sitzt: ein einzigartiges Individuum mit seinen ganz persönlichen Eigenschaften, Stärken, Schwächen und Bedürfnissen. Wir sollten es wahrnehmen – und uns seiner offen und zugewandt annehmen.

Mehr dazu:

Die Verhaltensbiologin Dr. Marie Nitzschner hat sich mit der Forschung um die Persönlichkeit von Hunden, Hunderassen und ihre Eigenschaften auseinandergesetzt. Noch mehr Studien, Quellen und Debatte hat sie in ihrer Science Series „Zwischen Typentests und Rasseklischees – Die Persönlichkeit des Hundes“ für alle Hundemenschen und Hundeberufler*innen verständlich aufgearbeitet. Die Aufzeichnung gibt es jederzeit im Shop.

Quellen:

Ancestry-inclusive dog genomics challenges popular breed stereotypes: https://www.science.org/doi/10.1126/science.abk0639

Personality traits in the domestic dog (Canis familiaris): https://www.researchgate.net/publication/228989505_Personality_traits_in_the_domestic_dog_Canis_familiaris

What kind or dog is that? Accuracy of dog breed assessment by canine stakeholders: https://vetmed-maddie.sites.medinfo.ufl.edu/files/2012/05/2012-Croy-Maddies-Shelter-Medicine-Confernce-Abstract.pdf und https://sheltermedicine.vetmed.ufl.edu/research/current-studies/dog-breed-identification/

Inconsistent identification of pit bull-type dogs by shelter staff: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26403955/

What’s in a Name? Effect of Breed Perceptions & Labeling on Attractiveness, Adoptions & Length of Stay for Pit-Bull-Type Dogs: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4805246/

Breed differences in canine aggression: https://www.researchgate.net/publication/233995885_Breed_differences_in_canine_aggression

Management and personality in Labrador Retriever dogs: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0168159114001099

Preliminary analysis of an adjective-based dog personality questionnaire developed to measure some aspects of personality in the domestic dog (Canis familiaris): https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0168159112000664